Die Unvergleichliche Perle

 •  9 min. read  •  grade level: 6
Das Wasser sprudelte plötzlich, wogte einige Zeit und wurde endlich wieder still und ruhig. Ein Amerikaner kauerte auf dem niedrigen indischen Hafendamm, den Blick auf die Stelle geheftet, wo ein dünnes Netz von Luftblasen, die aus der Tiefe des Wassers kamen, an die Oberfläche emporstiegen. Einen Augenblick später erschien ein schwarzer Kopf, und ein paar lebhafte Augen blickten auf. Dann kletterte der alte Perlenfischer auf die Mole, lächelte und schüttelte das Wasser von seinem öligglänzenden Körper ab.
“Ich habe niemals einen besseren Taucher gesehen, Rambhau”, rief David Morse, der amerikanische Missionar.
“Sehen Sie sich diese an, Sahib!” sagte Rambhau und zog sich eine große Auster aus den Zähnen. “Ich glaube, sie ist gut”.
Morse nahm die Auster, und während er sie mit seinem Federmesser öffnete, zog Rambhau andere, kleinere Austern aus seinem Schurz.
“Rambhau, sieh doch her!” rief Morse, “das ist ein wahrer Schatz”. “Ja, sie ist ganz gut”, sagte der Taucher mit einem Schulterzucken. “Ganz gut? Hast du jemals eine bessere Perle gesehen? Sie ist vollkommen, nicht wahr?” Morse hatte die Perle von allen Seiten geprüft, bevor er sie dem Hindu zurückgab.
“Doch, es gibt noch bessere, viel bessere. Nun, ich habe eine ..“ Er schwieg plötzlich und begann dann wieder: “Schauen Sie diese an”, sagte er, “sehen Sie diese Fehler, diese schwarze Schale, diese kleine Höhlung. Ihre Form selbst ist ein wenig länglich. Aber schließlich ist es eine recht schöne Perle.”
“Du bist zu kritisch, Du schadest Dir selbst, mein Freund”, sagte Morse traurig. “Ich würde niemals hoffen, eine vollkommenere Perle zu sehen!”
“Das ist genau das, was Sie sagten, als Sie von Gott sprachen”, sagte der Fischer. “In ihren eigenen Augen sind die Leute vollkommen, aber Gott sieht sie, wie sie in Wirklichkeit sind.”
Die beiden Männer schlugen den staubigen Weg ein, der zur Stadt führte.
“Du hast recht, Rambhau. Und Gott bietet Seine ganze Gerechtigkeit all denen, die einfach glauben und Sein freies Gnadengeschenk annehmen wollen. Kannst Du das nicht verstehen, mein Freund?”
“Nein, Sahib. Wie ich Ihnen schon so oft gesagt habe: das ist zu einfach. Hier scheitert eure gute Religion. Das kann ich nicht annehmen. Ich bin vielleicht zu stolz. Ich werde etwas dafür leisten müssen, um meinen Platz im Himmel zu bekommen. Andernfalls würde ich dort nicht zufrieden sein”.
“O! Rambhau!” sagte der Missionar, der seit Jahren für das Heil dieses Mannes betete. “O! Rambhau, sehen Sie nicht ein, daß Sie auf diese Weise niemals in den Himmel kommen werden? Es gibt nur einen Weg, um selig zu werden. Bedenken Sie doch, Rambhau! Sie werden alt. Dies ist vielleicht Ihre letzte Saison zum Perlenfischen. Wenn Sie jemals die Perlentore des Himmels schauen wollen, müssen Sie das neue Leben annehmen, das Gott Ihnen in Seinem Sohne anbietet” (Joh. 3, 16).
“Meine letzte Saison! Ja! Sie haben recht. Heute ist mein letzter Tag, an dem ich fische. Es ist der letzte Monat des Jahres, und ich habe Vorbereitungen zu treffen.”
“Sie müssen Vorbereitungen für das künftige Leben treffen.”
“Genau das will ich tun. Sehen Sie diesen Mann dort unten? Das ist ein Pilger, der vielleicht nach Bombay oder Kalkutta wallt. Er geht barfuß und tritt auf die schärfsten Steine—und sehen Sie doch, alle zwölf Meter kniet er nieder und küßt die Erde. Das muß man tun. Am ersten Tag des neuen Jahres werde auch ich meine Pilgerreise beginnen. Das ist mein Plan, den ich schon seit meiner Kindheit gefaßt habe. So werde ich mir einen Platz im Himmel sichern. Ich will mich auf den Knien nach Delhi begeben.”
“Armer Mann! Sie sind ja verrückt! Es sind von hier neunhundert Meilen bis nach Delhi! Die Haut von Ihren Knien wird sich durchscheuern, und Sie werden eine Blutvergiftung oder die Lepra bekommen, bevor Sie überhaupt in Bombay sind.”
“Nein! Ich muß nach Delhi gehen. Und dann werden mich die unsterblichen Götter belohnen. Das Leiden wird mir süß sein, weil es mir den Himmel erkauft.”
“Rambhau! Mein Freund! Das ist unmöglich. Wie könnte ich zugeben, daß Sie sich den Himmel erkaufen wollen, wo Jesus Christus für Sie gestorben ist, um Sie zu erlösen” (Röm. 3, 24). Aber der Inder blieb fest.
“Sie sind mein liebster Freund, Sahib Morse. All die Jahre hindurch haben Sie mir geholfen. Als ich krank und in Not war, waren Sie manches Mal mein einziger Freund. Aber trotzdem können Sie mich nicht von meinem großen Wunsche abqringen, mir das ewige Heil zu erkaufen. Ich muß nach Delhi gehen.” (Röm. 4, 4)
Alle Bemühungen waren vergebens. Der alte Perlenfischer konnte nicht verstehen, konnte das frei angebotene Heil in Christus nicht annehmen.
An einem Nachmittag hörte Morse an seine Tür klopfen. Er
öffnete und sah den alten Rambhau.
“Lieber Freund!” rief Morse. “Treten Sie doch ein”.
“Nein”, sagte der Fischer. “Ich möchte, daß Sie mich nach Hause begleiten, Sahib. Ich habe Ihnen etwas zu zeigen. Bitte weigern Sie sich nicht, mit mir zu kommen.”
Das Herz des Missionars zuckte vor Freude. Vielleicht würde Gott endlich seine Bitte erhören.
“Aber natürlich begleite ich Sie”, sacte er.
“Sie wissen, daß ich in etwa acht Tagen fort nach Delhi gehe”, sagte Rambhau zehn Minuten später, als sie bei ihm ankamen. Das Herz des Missionars krampfte sich zusammen.
Sie traten ein, und Morse setzte sich auf einen Stuhl, den sein Freund nach seinem Plan gezimmert hatte und auf dem er manches Mal gesessen hatte, um dem Fischer den von Gott verordneten Weg zum Himmel zu weisen (Apgsch. 4, 12).
Rambhau verließ das Zimmer, um bald zurückzukommen; er trug ein ziemlich schweres englisches Geldschränkchen.
“Da! Mehrere Jahre habe ich dieses Schränkchen schon”, sagte et. “Es ist nur ein Gegenstand, den ich darin aufbewahre. Davon will ich Ihnen jetzt erzählen. Sahib Morse, ich hatte früher einen Sohn.”
“Einen Sohn? Aber davon haben Sie mir nie etwas gesagt!”
“Nein, Sahib, ich habe Ihnen nie etwas davon sagen können.” Seine Augen wurden feucht. “Jetzt muß ich Ihnen davon erzählen, denn ich gehe bald fort, und wer weiß, ob ich jemals zurückkomme! Mein Sohn war ebenfalls Fischer. Er war der beste Perlenfischer der ganzen indischen Küste. Er konnte am schnellsten tauchen, er hatte das schärfste Auge, die kräftigsten Arme, den längsten Atem von allen Perlenfischern. Wieviel Freude machte er mir! Er träumte immer davon, die prachtvollste Perle zu finden, die man je entdecken würde. Er fand sie eines Tages. Aber als er sie vom Grunde losriß, war er schon zu lange unter Wasser gewesen. Er starb kurz darauf.” Der alte Fischer ließ den Kopf sinken, und einen Augenblick zitterte er am ganzen Körper, ohne ein Wort zu sagen.
Endlich fuhr er fort: “In diesen ganzen Jahren habe ich die Perle gehütet, aber jetzt gehe ich fort und werde wohl nicht wiederkommen; ich gebe Ihnen die Perle, Ihnen, meinem besten Freund.” Der Greis ließ das Geheimschloß des Geldschränkchens aufspringen und entnahm ihm ein sorgfältig eingewickeltes Päckchen. Er öffnete es behutsam und enthüllte eine riesengroße Perle, die er in die Hand des Missionars legte. Es war eine der größten Perlen, die man jemals an der indischen Küste gefunden hatte, und sie erstrahlte in einem Glanze, die die geschliffenen Perlen niemals erreichen. Sie würde einen märchenhaften Preis erzielt haben. Einen Augenblick lang blieb der Missionar stumm und betrachtete die wunderbare Perle.
“Was für eine Perle! Rambhau!”
“Diese Perle ist vollkommen, Sahib”, antwortete der Inder ruhig. Der Missionar hob schnell den Kopf. Ihm war eine Idee gekommen. “Rambhau”, sagte er, “das ist eine wunderbare Perle. Erlauben Sie, daß ich Sie kaufe. Ich gebe Ihnen gern zehntausend Dollar.”
“Was wollten Sie sagen, Sahib?”
“Nun, ich würde Ihnen fünfzehntausend geben, oder, wenn mehr nötig ist, würde ich arbeiten, um den Preis zu verdienen.”
“Sahib”, sagte Rambhau beinahe schroff, “diese Perle ist ohne Preis. Kein Mensch auf der Welt hat genügend Geld, um sie zu kaufen. Eine Million Dollar würden nicht genügen. Ich will Sie Ihnen nicht verkaufen. Sie können sie nicht erwerben wie einen Kieselstein.”
“Nein, Rambhau, ich will sie nicht annehmen. So gern ich sie haben möchte; auf solche Weise kann ich sie nicht annehmen. Ich bin vielleicht stolz, aber diese Art, sie zu bekommen, ist zu leicht. Ich muß die Perle bezahlen oder arbeiten, um sie zu verdienen.”
Der alte Perlenfischer wurde verwirrt.
“Sie verstehen mich ja überhaupt nicht, Sahib. Sehen Sie nicht, daß mein einziger Sohn sein Leben gegeben hat, um diese Perle zu besitzen und ich niemals erlauben würde, sie zu ververkaufen, zu welchem Preis auch immer? Es ist das Leben meines Sohnes, das ihr den Wert verleiht. Ich kann sie nicht verkaufen, sondern ich will sie Ihnen schenken. Würden Sie sie annehmen als einen Beweis der Liebe, die ich zu Ihnen habe?” Der Missionar schwieg beklommen. Eine Zeitlang konnte er kein Wort hervorbringen. Dann ergriff er die Hand des Greises: “Rambhau”, sagte er leise, “verstehen Sie nicht? Gerade das, was Sie eben gesagt haben, sagt Gott Ihnen!”
Der Fischer betrachtete den Missionar lange Zeit mit einem tiefen Blick; und langsam, sehr langsam, begann er zu begreifen.
“Gott bietet Ihnen das Heil umsonst. Dieses Heil ist so hoch über jedem Preis, daß niemand auf der Welt es erkaufen könnte. Millionen von Dollar würden nicht genügen. Kein Mensch könnte es verdienen. Ein Leben, das Millionen von Jahren dauern würde, wäre zu kurz. Niemand ist so gut, daß er es verdienen könnte. Es hat Gott die Hingabe Seines einzigen Sohnes gekostet, um Ihnen den Zugang zum Himmel zu erwerben. Sie könnten diesen Zugang nicht in einer Million Jahren erwerben, nicht mit hundert Pilgerfahrten. Alles, was Sie tun können, ist, es anzunehmen als einen Beweis der Liebe Gottes zu Ihnen, der Sie ein Sünder sind. Rambhau, ich würde gern die Perle annehmen, sehr demütig, und Gott dabei bitten, daß ich Ihrer Liebe würdig sei. Rambhau, wollen Sie nicht auch demütig das große Geschenk des Himmels annehmen, das Gott Ihnen anbietet, in dem Bewußtsein, daß es Ihn das Leben Seines einzigen Sohnes gekostet hat, um es Ihnen zu geben?” Der Greis weinte heiße Tränen. Der große Schleier hob sich vor seinen Augen. Endlich hatte er begriffen.
“Sahib, nun verstehe ich es. Ich glaube seit zwei Jahren an Jesu Lehre, aber ich konnte nicht daran glauben, daß Sein Heil umsonst sei. Endlich begreife ich. Es gibt Dinge, die zu unschätzbar sind, die wir nie kaufen oder verdienen können. Sahib, ich will das Heil in Jesus Christus annehmen!”